#06: Mittelstand 2025
Der deutsche Mittelstand muss sich neu erfinden. Die digitale Transformation setzt besonders kleine und mittlere Unternehmen unter Druck. Sie investieren im internationalen Vergleich zu wenig in ihr Wissenskapital, greifen neue digitale Technologien nur zögerlich auf und überlassen Innovationen immer öfter anderen – zumeist größeren Unternehmen. Auch die zweite große Änderungsanforderung, der Wandel zu einer klimaneutralen und ressourcenschonenden Wirtschaft kann ohne Innovationsoffenheit nicht gelingen. Wenn der Wirtschaftsstandort Deutschland seinen starken wettbewerbsfähigen Mittelstand mit guten Jobs im ganzen Land erhalten will, ist es höchste Zeit für einen Aufbruch. Dafür sind die Unternehmen gefragt: Sie müssen ihre Organisation digitalisieren, alte Geschäftsmodelle auf ihre Zukunftsfähigkeit abklopfen und sich darauf einstellen, dass Innovationen heute viel schneller und häufiger nötig sind. Der Staat muss den Mittelstand bei dieser Transformation aktiv begleiten.
Herausforderungen
Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 gibt es in Sachen Produktivität in Deutschland zwei Lager: Die Großunternehmen schreiten voran, die kleinen und mittleren Unternehmen hinken hinterher. Und der Abstand wächst. Digitalisierung und Automatisierung sind die entscheidenden Faktoren. Viele kleine und mittlere Unternehmen haben es in den vergangenen Jahren versäumt, ihre Geschäftsmodelle und Produkte der digitalen Wirtschaft anzupassen. Prozesse, Organisationsstrukturen und Kooperationsnetzwerke folgen zu häufig noch den Regeln einer vergangenen Welt. Die Unternehmensführungen müssten vor allem ins Wissen ihrer Beschäftigten investieren. Denn damit steht und fällt das Überleben in der digitalen Wirtschaft. Aber genau beim Wissenskapital bleiben sie hinter Unternehmen in vergleichbaren Ländern zurück. Auch für Innovationen sind immer seltener Unternehmen des deutschen Mittelstands verantwortlich - die doch einst fürs Tüfteln bekannt waren.
Langfristig droht so nicht nur ein Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch eine Teilung der wirtschaftlichen Entwicklung in Frontiers und Laggards sowie fortschrittlichere Ballungszentren und eher rückständige Regionen. Deshalb gilt es alles daran zu setzen, den dezentralen deutschen Mittelstand als Garant für flächendeckende wirtschaftliche Teilhabe erfolgreich zu transformieren.
Wer nicht auf Weiterbildung setzt, verschärft den eigenen Fachkräftemangel. Und am Markt sind diese auch immer seltener zu finden. Von moderner digitaler – aber manchmal auch von ganz klassischer – Infrastruktur sind kleine und mittlere Unternehmen zu oft abgeschnitten (siehe Handlungsfeld “Investor Staat”). Unternehmensdynamik und Unternehmensbestand nehmen in Deutschland beständig ab (siehe Handlungsfeld “Kreative Zerstörung”). Dies sind keine guten Ausgangsbedingungen für die Bewältigung der nächsten Veränderungswelle. Die doppelte Transformation von Digitalisierung und Wandel hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsform kann nur bewältig werden, wenn in den Unternehmen ein Bewusstsein für die Größe dieser Herausforderungen wächst. Aber auch die Chancen, die sich aus einer erfolgreichen Bewältigung ergeben, sollten nicht unterschätzt werden. Deutscher Tüftelgeist ist wieder gefordert.
Daten und Fakten
Der Mittelstand ist traditionell „Rückgrat“ und „Jobmotor“ der deutschen Wirtschaft. Die 3,5 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen steuerten 2019 mehr als 61 Prozent zur Netto-Wertschöpfung aller Unternehmen bei und erwirtschafteten mehr als 2 Billionen Euro. Vor Beginn der Corona-Pandemie arbeiteten hier fast 18 Millionen Menschen, rund 58 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigen. Für die Ausbildung ist der Mittelstand besonders wichtig: 82 Prozent aller Auszubildenden lernten 2019 in einem kleinen oder mittleren Unternehmen, zeigt das Institut für Mittelstandsforschung Bonn (IfM Bonn).
Doch der deutsche Mittelstand läuft Gefahr, abgehängt zu werden. Eine Untersuchung, die das IfM Bonn für uns durchgeführt hat, zeigt eine beunruhigende Entwicklung: Mittelgroße und kleine Firmen hinken in der Produktivitätsentwicklung den Großunternehmen immer weiter hinterher. Allein in den vier Jahren zwischen 2012 und 2016 ist die Arbeitsproduktivität von Großunternehmen im Vergleich um zwölf Prozent stärker gewachsen (Abbildung 1).
Entscheidend für die Entwicklung der Produktivität sind besonders zwei Faktoren: die Kapitalausstattung der Unternehmen je Arbeitnehmer – also die Kapitalintensität – und die erfolgreiche Teilnahme am Innovationsgeschehen. Die Kapitalintensität wird vor allem von den getätigten Investitionen beeinflusst. Bei den Investitionen hängen die Großunternehmen die kleinen und mittleren jedoch zusehends ab. Umgerechnet auf Vollzeitäquivalente investieren Großunternehmen heute das Fünffache.
Es gibt aber verschiedene Arten von Investitionen und die wirken sich unterschiedlich auf die Entwicklung der Produktivität aus. Investitionen in Wissenskapital sowie Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) haben einen besonders hohen Effekt. Aber gerade hier lassen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sich viel zögerlicher auf Neues ein als Große. So wächst aktuell auch die Kluft zwischen KMU und Großunternehmen bei der Anwendung von fortgeschrittener IKT und den im Betrieb genutzten IKT-Anwendungen.
Auch bei den Innovationen haben die großen Unternehmen die kleinen und mittleren abgehängt. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat in seinen regelmäßigen Erhebungen über Forschung und Entwicklung von Unternehmen wiederholt darauf hingewiesen, dass KMU immer seltener an Innovationen beteiligt seien. Nicht einmal jeder zehnte Euro, der für Forschung und Entwicklung ausgegeben wird, kommt von ihnen. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) macht sich im Nationalen Produktivitätsbericht 2020 Sorgen darüber, dass Innovationen zunehmend von Großunternehmen ausgehen. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat für uns Unternehmen nach Innovationen und ihrem Stand der Digitalisierung befragt. Das Ergebnis: Ist beides kaum ausgeprägt, handelt es sich um kleine und mittlere Unternehmen. Sehr groß ist der Abstand zwischen großen Firmen auf der einen sowie kleinen und mittleren auf der anderen Seite bei den besonders bedeutsamen Prozess- und Produktinnovationen. Als wesentliche Innovationshemmnisse führen die befragten Unternehmen in der Untersuchung des IfM Bonn für uns hohe Kosten und den Fachkräftemangel an.
Die Corona-Pandemie droht die Kluft zu verstärken: Kleine und mittlere Unternehmen gingen im Mannheimer Innovationspanel des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) davon aus, dass ihrer Innovationsausgaben 2020 um neun Prozent und 2021 um fünf Prozent zurückgehen würden. Die Großunternehmen hingegen wollen ihre Innovationsbudgets im Jahr 2021 sogar ausweiten. Auch sinkt die Quote innovierender Unternehmen im Mittelstand beständig (Abbildung 2).
Hinzu kommt die zweite – notwendige – Transformation hin zu einer nachhaltigen, ressourceneffizienten Wirtschaftsweise, die den politisch gesetzten Klimaschutzzielen gerecht wird. Das stellt insbesondere den industriell geprägten Mittelstand vor große Herausforderungen. Etablierte Produktionsverfahren müssen umgestellt, Ressourcen eingespart und Lieferketten an Nachhaltigkeitskriterien ausgerichtet werden. Auch damit tut sich der Mittelstand bisher schwer. Potenziale der Digitalisierung für die Messung, Steuerung und Effizienzsteigerung des Ressourceneinsatzes werden nicht ausgeschöpft. Und noch gibt es zahlreiche Hemmnisse, die eine Erhöhung der Ressourcenproduktivität gerade in KMU blockieren: Unzureichende finanzielle, zeitliche und personelle Kapazitäten für die Transformation etablierter Produktionsprozesse, mangelnde Beratung, Vernetzung und Kenntnis über (Kostensenkungs-)Potenziale sowie Inkonsistenz bei den Förderprogrammen.
Politischer Handlungsbedarf
Der Mittelstand tut sich insgesamt schwer mit Investitionen und Innovationen. Zudem droht eine Überforderung durch die doppelte Transformation, die die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet. Damit gerät das deutsche Modell einer mittelständisch geprägten Wirtschaft in Gefahr. Natürlich sind in erster Linie die Unternehmen selbst gefordert. Hier muss das Bewusstsein für die Größe der Aufgabe wachsen. Die entsprechenden Weichenstellungen für ein Überleben des Unternehmens müssen im Unternehmen selbst getroffen werden. Aber auch der Staat muss aktiv werden. Die Politik muss verhindern, dass kleine und mittlere Unternehmen weiter an Boden verlieren.
Deutschland braucht eine politische Strategie für einen starken „Mittelstand 2025“. Folgende Prioritäten sollte diese setzen:
Unternehmen brauchen Anreize, um in Innovationen zu investieren. Mit dem Forschungszulagengesetz hat Deutschland 2020 erstmals eine Möglichkeit geschaffen, Forschung steuerlich zu fördern. Im Rahmen des Corona-Konjunkturpaketes wurde auch der Förderdeckel erhöht.
Dennoch geht die Strategie an den Bedürfnissen gerade von kleinen und mittleren Unternehmen vorbei. Denn die arbeiten bei der Forschung oft mit externen Partnern zusammen. Solche Auftragsforschung wird in dem Gesetz zwar berücksichtigt. Der Fördersatz von Auftragsforschung müsste aber erhöht werden. Auch könnte die Bemessungsgrundlage für Personalkosten in der Forschung erhöht werden, schlägt die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) vor. Dies käme den mehr als 90 Prozent aller kleinen und mittleren Unternehmen zugute, die weniger als zwei Millionen Euro für ihr Forschungspersonal ausgeben. Um den Anschluss an modernste digitale Technologien zu gewährleisten, muss außerdem das Wissenskapital der Unternehmen wachsen und moderner werden.
Zudem brauchen Unternehmen Fachkräfte. Gerade für kleine und mittlere drängt das Problem. Besonders in technischen Berufsfeldern meldet die Bundesagentur für Arbeit Engpässe. Die Politik sollte mit hohen Investitionen ins Bildungssystem gegensteuern. Allerdings reicht es nicht aus, zu warten, bis die nächsten Hochschulabsolventen ihr Wissen in die Betriebe tragen. Die Digitialisierungskompetenzen fehlen jetzt. Außerdem verändern sich die Anforderungen an die Beschäftigten durch die Digitalisierung viel schneller als früher. Am schnellsten können Politik und Unternehmen deshalb mit Fort- und Weiterbildung reagieren. Forschungsorientierte Hochschulen und andere Träger von Qualifizierungsprogrammen sollten ihr Angebot zügig ausbauen.
Nach wie vor hinkt Deutschland hinterher, was nötige Investitionen in die klassische und eine moderne digitale Infrastruktur angeht. Auch dies hemmt vor allem kleine und mittlere Unternehmen, die nicht in Metropolen oder ihrem direkten Umland angesiedelt sind. Eine aktuelle Auswertung des IAB-Betriebspanels zeigt, wie wichtig vor allem der Zugang zu schnellen Internetverbindungen für die Innovationstätigkeit ist. Investitionen in den Erhalt und den Ausbau der klassischen Infrastruktur und ein flächendeckender Ausbau des Glasfasernetzes sind unverzichtbar für einen dezentralen Mittelstand (siehe Handlungsfeld “Investor Staat”).
Und die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsform? Natürlich sind auch hier die Unternehmen selbst gefragt. Die Chancen, die sich aus neuen oder veränderten Geschäftsfeldern ergeben, müssen erkannt werden. Aber schon allein die Investitionen in eine erhöhte Ressourceneffizienz – und damit weniger Ressourcenverbrauch – an den unterschiedlichsten Stellen im Produktionsprozess wird sich nicht nur gesellschaftlich, sondern auch betriebswirtschaftlich als lohnend erweisen.
Zum Weiterlesen
[2] Economic Survey of Germany. Der Bericht untersucht die großen Herausforderungen, denen sich Deutschland stellen muss, beurteilt die kurzfristigen Aussichten und formuliert spezifische Politikempfehlungen. (Dezember 2020)
[3] Jahresgutachten 2021/21. Jährlich erscheinendes Gutachten des Sachverständigenrates für Wirtschaft. (November 2020)
[4] KfW-Innovationsbericht Mittelstand 2020: Corona-Krise bremst Innovationen im Mittelstand (Juni 2021)