#07: Produktives Europa
Das schwache Produktivitätswachstum ihrer Mitgliedsstaaten stellt die Europäische Union (EU) in zweierlei Hinsicht auf die Probe. Nach außen will sie als globaler Wirtschaftsraum gegenüber den USA und China dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben. Dafür muss sie Innovationskraft und Produktivität insgesamt steigern. Nach innen aber muss die EU für Ausgleich sorgen. Denn technischer Fortschritt und Effizienzgewinne dürfen nicht nur einzelne Regionen oder Unternehmen voranbringen. Sie sollten möglichst allen Menschen in Europa zugutekommen. Sonst drohen wirtschaftliche Ungleichgewichte und politischer Dissens zwischen den Mitgliedstaaten, was die Wirtschafts- und Währungsunion untergraben könnte.
Herausforderungen
Die EU hat Großes vor: Sie will die Digitalisierung meistern und im Klimaschutz vorangehen, ohne im Wettbewerb mit den Konkurrenten USA und China zurückzufallen. Die legen mit ihren Innovationen in wichtigen Schlüsseltechnologien ein beeindruckendes Tempo vor, sodass auch die EU innovativer und produktiver werden muss. Das schwache Produktivitätswachstum der letzten Jahre darf hier kein Maßstab sein.
Doch wenn es nun schneller gehen soll, gibt es einige Herausforderungen: Innerhalb der Union darf keine allzu große Ungleichheit beim technologischen Fortschritt entstehen, die sich auch in wachsenden regionalen Produktivitäts- und Wohlfahrtsgefällen ausdrücken würde. Zudem muss die EU ihre ethischen Grundlagen wahren, wenn es um die Entwicklung neuer Technologien geht. Und dann hat sie noch mit teilweise weit auseinanderliegenden Interessen ihrer 27 Mitgliedsstaaten zu kämpfen. Dies darf die Entscheidungsfindung nicht zu sehr ausbremsen, während sich Innovationszyklen weiter beschleunigen.
Mit dem European Green Deal will die EU der Welt zeigen, wie sie Klimaziele einhalten kann, ohne Wachstum einzubüßen. Das geht jedoch nur, wenn Ressourcen schnell produktiver und somit sparsamer genutzt werden. Je nach Wirtschaftsstruktur haben die EU-Volkswirtschaften mit der Umstellung mehr oder weniger stark zu kämpfen. Ohne dass stärkere Mitgliedsstaaten unterstützen, ist solch ein Vorhaben kaum umzusetzen. Klimaschutz in der EU geht nur solidarisch.
Auch die Wirtschafts- und Währungsunion bleibt nur erhalten, wenn in der wirtschaftlichen Entwicklung keine allzu großen und anhaltenden Gräben entstehen. Wenn die Produktivität in einem Teil der EU über längere Zeit wesentlich schneller wachsen sollte als in einem anderen, nähmen auch Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit und Einkommensentwicklung zu. Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte wären die Folge und erhebliche Probleme für die gemeinsame Geldpolitik wären programmiert. Die Notwendigkeit anderer Ausgleichsmechanismen, wie fiskalischer Transfers, würde dann weiter zunehmen. Womöglich könnte gar die Überlebensfähigkeit des Euro wieder in Frage gestellt werden.
Ein dauerhaftes Wohlstandsgefälle würde in schwächeren Regionen auch gesellschaftliche Kosten verursachen. Und diese könnten den sozialen und politischen Zusammenhalt gefährden. Wirtschaftliche Unterschiede würden wiederum den politischen Zwist anheizen – was Innovationen in Europa noch langsamer machen könnte. Ob Europa produktiver wird, hängt maßgeblich vom technischen Fortschritt und der Innovationskraft ab. Deshalb braucht die EU flächendeckend gute Rahmenbedingungen. Und sie muss dafür sorgen, dass neue Technologien schnell der gesamten Union zugutekommen. An den Vorteilen der Innovation müssen möglichst alle teilhaben können.
Daten und Fakten
Das Trendwachstum der Arbeitsproduktivität ist in Deutschland und Europa seit langer Zeit rückläufig (Abbildung 1). Zur Frage, warum dies trotz Digitalisierung und technologischen Fortschritts in den großen EU-Volkswirtschaften so ist, gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Sie reichen von generell zurückgehender Investitionstätigkeit und Kapitalintensität – Stichwort säkulare Stagnation – über Probleme bei der richtigen Messung von Wertschöpfung und Produktivität bis hin zur Annahme, dass sich Produktivitätszuwächse erst mit einigem Verzug nach der breiten Diffusion und Adaption neuer Technologien einstellten und somit noch bevorstünden.
Für Deutschland haben wir einige problematische Entwicklungen identifiziert, die sowohl das nachlassende Produktivitätswachstum als auch seine ungleiche Verteilung, also die doppelte Produktivitätskrise, maßgeblich beeinflussen (siehe Abschnitt "Die wichtigsten Gründe für die schwache Produktivität” im Kapitel “Für mehr Produktivität und Teilhabe”).
Auch zwischen den Regionen der EU lässt sich eine große Divergenz in den Arbeitsproduktivitätsentwicklungen feststellen (Abbildung 2). Während die meisten südeuropäischen Regionen, von denen viele schon 2007 unterdurchschnittlich produktiv waren, mehrheitlich noch an Produktivität eingebüßt haben, gelang es dem Großteil der osteuropäischen Regionen deutliche Zuwachsraten zu erreichen.
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Politischer Handlungsbedarf
Europas Wirtschaft muss schnell produktiver werden. Das lässt sich von keinem Mitgliedsstaat allein stemmen. Sie sollten ihre Produktivitätsstrategien besser verzahnen. Dafür brauchen sie Unterstützung von der EU.
Zwei Hebel sind besonders wichtig für mehr Produktivität in Europa: Innovationen und Investitionen. Für beides muss mehr getan werden. Das Potenzial ist groß: Ein tatsächlich vollendeter Binnenmarkt, in dem auch Finanz- und digitale Dienstleistungen ohne Barrieren gehandelt werden können, böte bessere Finanzierungsmöglichkeiten, Reibungsverluste nähmen ab und technologischer Fortschritt käme leichter überall an. Mehr öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und Anreize für private Investoren – etwa durch die Europäische Investitionsbank – könnten die Produktivität ankurbeln. Dies gilt auch für die deutsche Wirtschaftspolitik (siehe Handlungsfeld „Investor Staat“).
Gleichzeitig könnte sich die gemeinsame Regional- und Strukturpolitik noch stärker auf besonders rückständige Regionen konzentrieren, um sie produktiver zu machen und damit Wohlstandsgefälle nachhaltig abzubauen. Auch der Corona-Wiederaufbaufonds sollte genutzt werden, um langfristig die Produktivität zu steigern. Die EU-Kommission muss zudem alles daransetzen, den europäischen Forschungsraum auszubauen. Europas Staaten brauchen mehr private und öffentliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung.
Technologischer Fortschritt und die Innovationspolitik der EU sollten einem Grundgedanken folgen: Wo kann Fortschritt helfen, nicht nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, sondern auch gesellschaftliche Probleme zu lösen? Dabei kann die EU etwa durch Austausch und Vernetzung über Ländergrenzen hinweg helfen, Matchingprobleme zu lösen und Skaleneffekte zu ermöglichen oder das europäische Start-up-Ökosystem missionsorientiert weiterzuentwickeln. In der Bevölkerung gibt es dafür großen Rückhalt.
Ein Ziel sollte es bei alledem sein, ein hohes Maß an Technologiesouveränität sicherzustellen: Die EU muss über jene Technologien verfügen können, die für Wohlfahrt, Wettbewerbsfähigkeit oder staatliches Handeln kritisch sind, um nicht in zu große Abhängigkeiten zu geraten und Gestaltungsmacht einzubüßen.
Zum Weiterlesen
[2] Bertelsmann Stiftung (2021), Innovation for Transformation – Wie die Verbindung von Innovationsförderung und gesellschaftlicher Problemlösung gelingen kann, Ergebnispapiere 1-5, Gütersloh.