Wohin es gehen soll:
Die Transformation zu einer Nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft
Die größten Herausforderungen unserer Zeit sind zweifellos der voranschreitende Klimawandel und die Eindämmung der Klimakrise. Mit der Transformation hin zu einer Wirtschaftsweise innerhalb der planetaren Grenzen steht und fällt nicht nur der Wohlstand heutiger, sondern auch die Lebensgrundlage zukünftiger Generationen. Ökologische Nachhaltigkeit ist die Voraussetzung dafür, materiellen Wohlstand und Teilhabe für breite Bevölkerungsschichten verwirklichen zu können.
Ausgangslage
Die Verbindung von wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Ausgleich ist der Kern der Sozialen Marktwirtschaft, die seit Jahrzehnten das konzeptionelle Leitbild der deutschen Wirtschaftspolitik bildet. Ihr zentrales Versprechen lautet „Wohlstand für Alle“. Konkret wurden dafür im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 vier Staatsziele ausgegeben: Angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum, stabiles Preisniveau, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht (Abbildung 1). Die Beziehungen zwischen diesen Zielen sind allerdings geprägt von wechselseitigen Abhängigkeiten und Zielkonflikten. Trotz möglicher Unvereinbarkeiten sollen die vier Ziele untereinander gleichrangig sein, weshalb allgemein auch vom „Magischen Viereck“ gesprochen wird.
Abbildung 1: Das „Magische Viereck“ der Wirtschaftspolitik
Neue Herausforderungen
Doch dieser Orientierungsrahmen erweist sich seit Jahren als immer weniger angemessen und praxistauglich. Die dynamischen Megatrends der Globalisierung, Digitalisierung, Dekarbonisierung und des demografischen Wandels stellen die Soziale Marktwirtschaft vor große Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Debatte um die Erneuerung des Stabilitätsgesetzes und die Weiterentwicklung des wirtschaftspolitischen Zielsystems seit Jahren zunehmend an Bedeutung. Wichtige Ansätze für eine ganzheitliche Wohlstandsmessung und die Erweiterung des wirtschaftspolitischen Orientierungsrahmens stammen von der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“, der Friedrich-Ebert-Stiftung und vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Sie alle zielen darauf ab, den Wohlstandsbegriff von seiner einseitigen materiellen Ausdehnung im Sinne des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf die Dimensionen der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit sowie der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen auszudehnen.
Ökologische Nachhaltigkeit ist alternativlos
Die sich verschärfende Klimakrise und das Überschreiten planetarer Belastungsgrenzen machen die ökologische Transformation der Wirtschaft, ihre Entkopplung vom Einsatz natürlicher Ressourcen und das Ende der Emission von Treibhausgasen immer dringlicher. So ist das aktuelle Jahrzehnt für den Erfolg der Klimaschutzanstrengungen und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels entscheidend.
Die herausgehobene Bedeutung der ökologischen Nachhaltigkeit im Sinne einer Klimaneutralität unterstreicht auch Deutschlands Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens. 195 Unterzeichnerstaaten verpflichten sich mit dem Übereinkommen von Paris dazu, den menschengemachten Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C – möglichst auf 1,5 °C – gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Der Vertrag ist auch die Grundlage für die europäischen und nationalen Klimaziele.
Wohlstand statt Wachstum wird zu einer Zielgröße
Vor dem Hintergrund der ökologischen und sozialen Folgen eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums gilt es, das ursprüngliche Ziel des „angemessenen und stetigen Wirtschaftswachstums“ auf den Prüfstand zu stellen. Anstelle des Wachstums selbst, kann das materielle Wohlstandslevel als wirtschaftspolitische Zielgröße in einer Nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft angesehen werden. Damit gemeint ist eine möglichst hohe materielle Ausstattung mit Waren und Dienstleistungen, die unter Einhaltung der planetaren Grenzen erreicht werden kann.
Verteilung des Wohlstands muss reflektiert werden
Die Frage der Verteilung von Wohlstand ist eng mit Teilhabechancen und Lebensqualität vieler Menschen verknüpft. Obwohl sozialer Ausgleich ein Kerngedanke der Sozialen Marktwirtschaft ist, taucht die Dimension der sozialen Nachhaltigkeit im wirtschaftspolitischen Zielsystem des „Magischen Vierecks“ nicht explizit auf. Das Versprechen einer breiten Teilhabe der Bevölkerung am wirtschaftlichen Fortschritt konnte nicht vollständig erfüllt werden. Eine große sozioökonomische Ungleichheit kann Wirtschaft und Gesellschaft schaden und Demokratie und Zusammenhalt gefährden. Auch für die Herausforderungen der ökologischen Transformation sind sozialer Zusammenhalt und gleichberechtigte Teilhabechancen daher von großer Bedeutung.
Ukraine-Krieg und Corona-Pandemie bedeuten neue außenwirtschaftliche Ziele
Der von Russland geführte Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt die Ziele der deutschen Außen-, Energie- und Wirtschaftspolitik in vielfacher Hinsicht auf den Prüfstand. Zusätzlich halten auch die Lieferkettenverwerfungen infolge der Corona-Pandemie weiter an. Beide aktuellen Entwicklungen haben klar vor Augen geführt, welche dramatischen Konsequenzen wenig diversifizierte Abhängigkeiten bei Vorprodukten und Rohstoffen haben können. Konzepte wie Resilienz und Souveränität werden intensiv debattiert und erfordern ein neues Verständnis eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts jenseits der Differenz zwischen Importen und Exporten. Zunehmend wird es darauf ankommen, einen Zustand zu erreichen, bei dem die positiven Auswirkungen des Außenhandels überwiegen, während die Risiken aus kritischen Abhängigkeiten minimiert sind.
Europäische Integration ergänzt nationale Ziele
Im Zuge der europäischen Integration hat das Stabilitätsgesetz gerade im Hinblick auf öffentliche Finanzen, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Preisniveaustabilität an Bedeutung verloren. Mit der Einführung des Euro als gemeinsame Währung wurde die geldpolitische Verantwortung auf die europäische Ebene an die Europäische Zentralbank (EZB) übertragen. Durch die Eurokrise gerieten dann die vertraglich festgelegten Staatsschuldengrenzen stärker in den Fokus. Das Ziel, die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen dauerhaft zu sichern, wurde schließlich im Fiskalpakt der EU von 2012 festgehalten.
Seit 2011 werden zusätzlich auch makroökonomische Ungleichgewichte zwischen den EU-Mitgliedsstaaten überwacht. Ziel ist es, zu ermitteln, ob diese die länderspezifischen und gemeinschaftlichen wirtschaftspolitischen Ziele gefährden könnten. Werden potenziell schädliche Ungleichgewichte festgestellt, kann das betreffende Land zu Gegenmaßnahmen verpflichtet werden, um die makroökonomische Stabilität des europäischen Wirtschaftsraumes zu sichern.
Ein zeitgemäßes wirtschaftspolitisches Zielsystem
Auf Grundlage dieser Überlegungen ergänzt unser Vorschlag eines zeitgemäßen Zielsystems das bisherige „Magische Viereck“ durch die Ziele der ökologischen Nachhaltigkeit, der fairen Einkommensverteilung sowie der finanzpolitischen Tragfähigkeit. Das Ziel eines hohen materiellen Wohlstands ersetzt die Zieldimension „angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum“ und das Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts wird im Kontext aktueller Entwicklungen neu bewertet. So entsteht ein Zielsystem aus sieben wirtschaftspolitischen Zielen, von denen die ökologische Nachhaltigkeit eine herausgehobene Bedeutung erhält.
Abbildung 2: Zielsystem einer Nachhaltigen Sozialen Marktwirtschaft
Der vorliegende Ansatz fokussiert dabei auf die wirtschaftspolitische Steuerung der anstehenden Transformation, sodass etwa Ziele im Gesundheits- und Bildungsbereich bewusst ausgeblendet werden. Die sieben wirtschaftspolitischen Zieldimensionen können auch anders gefasst, als Vorbedingungen oder Teilziele verstanden werden. Mit Ausnahme der ökologischen Nachhaltigkeit sind sie aus Gründen der Übersichtlichkeit als gleichrangig angeordnet, wenngleich eine Gleichgewichtung explizit nicht unterstellt wird. Einerseits stehen alle Ziele aufgrund gesellschaftlicher Präferenzen in einer dynamischen Hierarchie; andererseits besteht eine inhärente Rangfolge, die jedoch nicht eindeutig zu beschreiben ist.
So sind der Erhalt und die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme die grundlegende Voraussetzung für Leben und wirtschaftliche Aktivität. Die langfristigen ökonomischen Vorteile einer erfolgreichen Eindämmung des Klimawandels sind deutlich größer als die Kosten der Maßnahmen zur Emissionsreduktion und auch die Kosten der Beibehaltung des Status quo. Auch ist das aktuelle Jahrzehnt für die Bekämpfung der Klimakrise entscheidend. Daher wird das Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit im Folgenden als Ausgangspunkt für mögliche Zielkonflikte mit den sechs weiteren wirtschaftspolitischen Zieldimensionen verwendet.
Doch durch die Notwendigkeit einer ökologischen Transformation erübrigen sich die anderen sechs Ziele keineswegs. Vielmehr sind materieller Wohlstand und seine faire Verteilung ebenso wie hoher Beschäftigungsstand, stabiles Preisniveau, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und tragfähige Staatsfinanzen wesentliche Vorbedingungen dafür, dass weitreichende klimapolitische Maßnahmen von der Gesellschaft als Ganzes mitgetragen werden. Aufgrund dieser interdependenten Zusammenhänge ist es maßgeblich, mögliche Zielkonflikte mit dem Ziel der ökologischen Nachhaltigkeit zu verstehen und ihnen durch einen klugen wirtschaftspolitischen Instrumentenmix bestmöglich vorzubeugen oder sie aufzulösen.